Dieser eindrucksvolle Debütroman spiegelt die amerikanische Wirklichkeit wider jenseits jeglicher Klischees und rosaroter „American Dream-Romantik“. Auch „Yes, we can“ greift hier nicht. Es geht um den einkommensschwachen Bevölkerungsanteil, um die Chancenlosen und Vergessenen. Mit viel Verve und Sympathie für ihre Figuren erschafft die Autorin einen bunten Mikrokosmos.

Indiana, USA: Früher boomte hier u.a. die Stahlindustrie. Heute ist dieser einstige Speckgürtel abgewirtschaftet, ehemals prosperierende Städte sind heruntergekommen und die Bevölkerung mangels Arbeitsplätze perspektivlos. Hier lebt die Protagonistin Blandine im sogenannten „Kaninchenstall“, einem maroden, überfüllten Appartement-Komplex, der sich durch eine bunte Anzahl von skurrilen und schrillen Bewohnern auszeichnet.

Blandine heißt eigentlich Tiffany, ist 18 Jahre alt, esoterisch angehaucht und hat eine merkwürdig anmutende Vorliebe, fast schon Verehrung, für Hildegard von Bingen. Sie lebt mit drei männlichen Mitbewohnern in einer WG, ehemalige Pflegekinder wie sie auch. Blandine ist hochbegabt und hat ein Stipendium für eine renommierte Schule bekommen. Aber sie vergeigt diese einmalige Chance komplett. Nach einer unglücklich endenden Beziehung zu einem ihrer Lehrer, schmeißt sie alles hin und arbeitet in einem Diner, um sich über Wasser zu halten.

Zu den anderen Bewohnern gehört auch Hope, eine junge psychisch kranke Mutter, die Angst vor den Augen ihres Babys hat. Auch Elsie Blitz wohnt hier. Der einstige Kinderstar wird selbst im betagten Alter von hartgesottenen Fans noch als „American Sweetheart“ bewundert. Ihr Sohn Moses ist dagegen kein Sweetheart, er rastet gerne mal aus. Joan Kowalski lebt hier einsam und ohne Kontakte. Sie hat den seltsamen Beruf einer Nachruf-Kontrolleurin und löscht im Internet Nachrufe, die sich diffamierend über eine verstorbene prominente Person äußern.

Die Autorin lässt in ihrem hochgelobten Debüt eine illustre Schar an originellen Figuren aufmarschieren. Sie sind stellvertretend für die moderne amerikanische Gesellschaft. Es geht um Einsamkeit und Gemeinschaft sowie um Stillstand und Hoffnung. Kapitalismus, Social Media, Urbanisierung, Klimawandel, die MeToo Debatte – kein aktuelles Thema wird ausgelassen. Trotzdem ist das Buch nie überfrachtet. Auch die vielen Charaktere überfordern nicht. Ein stimmiger Gesellschaftsroman, der virtuos erzählt wird und niveauvoll unterhält, kurz gesagt: preisverdächtig!

(Sylvia Jongebloed)


Tess Gunty: Der Kaninchenstall. Kiepenheuer & Witsch 2023, € 25,00.

Übersetzt von Sophie Zeitz

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