Haruki Murakamis neuester Roman, pünktlich zu seinem 75. Geburtstag am 12. Januar 2024 erschienen, hat es in sich. Über 631 Seiten entfaltet Murakami ein funkelndes Panorama seines Lebensthemas, des Ineinanderfließens realer Lebenswelten und träumerisch kreierter Paralleluniversen. Bei fortschreitender Lektüre verschwimmen beide Ebenen. Murakami überlässt es der Fantasie des Lesers zu entscheiden, was real und was irreal ist. Der trotz gelegentlicher Redundanzen spannende und sprachlich brillante Roman lässt sich als modernes Märchen, als Parabel für die Einsicht, dass nichts im menschlichen Leben gewiss ist, oder als intellektuell philosophisches Vexierspiel lesen. Der Roman lässt eine Vielzahl von Interpretationen zu und ist ein großes Lesevergnügen.

Der Roman beginnt als romantische Liebesgeschichte zweier Jugendlicher, des 17-jährigen Ich-Erzählers und eines 16-jährigen Mädchen. Die Treffen der Liebenden in einer idyllischen Flusslandschaft  beschränken sich auf Gespräche und Zärtlichkeiten, zwischen den Treffen schreiben sie sich leidenschaftliche Briefe. Das Mädchen erzählt von einer anderen Welt, wo es eigentlich lebe, die von einer Mauer umgeben sei, mit Einhörnern, ohne Zeit und einer Bibliothek, in der in Eiern von einem Traumleser zu lesende Träuem aufbewahrt seien. Das Mädchen verschwindet spurlos, der Ich-Erzähler bleibt allein zurück. Er lebt die nächsten dreißig Jahre ein gewöhnliches Leben mit Studium und Anstellung als Bibliothekar und einigen Liebschaften. Das Mädchen vergisst er nie. 

Mit Mitte vierzig findet sich der Ich-Erzähler in der von dem Mädchen imaginierten Stadt wieder. An dem einzig zugänglichen Nordtor muss er, wie alle Bewohner, seinen Schatten bei einem allmächtigen Stadtwächter abgeben, der den Schatten wie die Schatten aller Bewohner weg sperrt, eine Reise ohne Wiederkehr. Der Ich-Erzähler wird allseits geachteter Traumleser, die von dem immer noch 16-jährigen Mädchen geleitet wird, das ihn nicht erkennt. Der Ich-Erzähler besucht unter Missachtung der Gesetze der Stadt seinen immer hinfälliger werdenden Schatten, Um ihn vor dem Tod zu bewahren, ermöglicht der Ich-Erzähler seinem Schatten die Flucht in die reale (?) Welt. 

Auf einer dritten Handlungsebene gibt der Ich-Erzähler oder sein Schatten (?) seine bürgerliche Existenz und bewirbt sich erfolgreich als Leiter der öffentlichen Bibliothek in der Bergwelt von Fukushima. Er begegnet seinem geisterhaften alten Vorgänger und einem Jungen im Yellow-Submarine T-Shirt, Symbol für Murakamis Vorliebe für die Beatles. Weiter begegnet der Ich-Erzähler einer Coffeeshop-Besitzerin, mit der er eine Liebesgeschichte beginnt. Die Ebenen wechseln ständig, es ist zunehmend unklar, ob sich der Ich-Erzähler in der Realität oder in einer von ihm vorgestellten Phantasiewelt bewegt. Aber was ist schon real? Alles fließt und gewiss ist nur die Ungewissheit.

(Ein Buchtipp von unserem lieben Kunden Mario Jorberg)


Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Dumont Buchverlag 2024, € 34,00.

Übersetzt von Ursula Gräfe

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