Sergej Lebedew (geb. 1981 in Moskau) ist eine der maßgeblichen Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur, er lebt derzeit in Postdam. Der studierte Geologe hat in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung am 11.10.2021 zu seiner regimekritischen Haltung ausgeführt, die Geologie sei das Resultat eines Dramas, das sich vor Millionen von Jahren abgespielt habe. Es gäbe Schichtungen, Verschiebungen und Umformungen, genau das sei mit dem historischen Gedächtnis passiert. Seine Helden seien Elektroden, zwischen denen sich die Spannungen entlüden. Die russische Gesellschaft weigere sich, Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit zu übernehmen. Gewalt und Gesetzlosigkeit sind für Lebedew das Resultat dieser Verdrängung, an der die Perestroika und die demokratische Transformation gescheitert seien.

Nach einigen Romanen hat Lebedew den Erzählband „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“ vorgelegt, der in elf Geschichten vielschichtig Einblicke in die poststalinistische Gesellschaft früherer Jahre und in die postsowjetische Gesellschaft gewährt.

Da ist der Richter, dem der Karrieresprung zum stellvertretenden Vorsitzenden am Obersten Gerichtshof sicher ist, nachdem er in einem spektakulären Fall, es geht um die Ansprüche von Nachfahren der Opfer von Katyn, die von ihm staatlicherseits erwartete Klageabweisung in rechtsbeugender Absicht elegant begründet hat. Da ist der leidenschaftliche Sammler, den nach dem Erwerb einer Schatulle für Visitenkarten aus den Beständen der zaristischen Oberschicht ein tödliches Fieber ergreift. Da ist der von einem Friedhofsgärtner gegen die Ordnung für sich selbst errichtete Obelisk auf einem Friedhof der Nomenklatura, den der zum Totengräber abgestiegene Enkel eines Zahnarztes zerstört, ob als Abgesang auf die Alte Ordnung oder zu dessen Wiederherstellung, bleibt offen. Da sind sie, die Gegenstände, die über Jahrzehnte von Dörflern ergaunert und gestohlen, die Häuser stickig machen, und die geheimnisvolle alte Scheune, verschlossen und bewacht von einer Art Dorfschulze, der als Kind den Deutschen Beihilfe zum Judenmord geleistet hat, und der uneheliche Sohn einer Bewohnerin als Outlaw, der ein Tabu bricht. Da ist das kurze „i“ als erster Buchstabe der russischen Tastatur als Ausgangspunkt einer Reflexion über die Macht der Sprache, des Aufbegehrens und des Verrats. Und da ist der „Titan“, ein kleiner schmächtiger Mann, den die Staatsmacht als für die öffentliche Ordnung gefährlichen Schriftsteller ausgemacht hat, dessen Lebenswerk sich auf einen nie veröffentlichten Liebesroman beschränkt, ein Wirken, das in keinem Verhältnis zu den absurden geheimdienstlichen Aktivitäten rund um seine Person steht.

Der Erzählband bietet einen interessanten Einblick in die russische Lebenswirklichkeit und die Gefährlichkeit von Verdrängungsprozessen und die damit verbundene Aggression nach innen und nach außen.

(Ein Buchtipp von unserem lieben Kunden Mario Jorberg)


Sergej Lebedew: Titan oder die Gespenster der Vergangenheit. S. Fischer Verlag 2023, € 25,00.

Übersetzt von Franziska Zwerg

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