“Nicht zu wissen, was passiert ist, ist schlimmer als jede Wahrheit.“

In Lisa Roys Debütroman geht es um Arielle. Sie hat einiges hinter sich: Als sie sechs Jahre alt war, verschwand ihre Mutter. Deren Schicksal ist bis heute ungeklärt. Diesen Verlust und die Ungewissheit hat Arielle nie verwunden. Aufgewachsen war sie danach bei ihrer Großmutter in einem armen Stadtteil von Essen, und sie hat alles getan, um dieses Leben hinter sich zu lassen. Denn Liebe, Unterstützung und Fürsorge gab es hier nicht mehr für sie, seit ihre Mutter weg war.

In ihrem neuen Leben ist sie erfolgreiche Social Media-Managerin mit einem selbstzerstörerischen Hang. Nach außen ist sie tough und nie um einen coolen Spruch verlegen, doch die Fassade bröckelt. Immer wieder haut eine Depression sie aus der Bahn, und vor kurzem gab es einen Zwischenfall, der sie in eine Klinik gebracht hatte. Frisch entlassen erreicht sie ein Anruf aus ihrer alten Heimat. Eine Sozialarbeiterin bittet sie zurückzukehren, um ihre Großmutter Varuna nach einem Sturz im Alltag zu unterstützen. Widerwillig kehrt sie zurück. Alte Wunden werden aufgerissen, und das nicht nur durch die bitter vertraute Umgebung. Zufälligerweise ist zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr nämlich erneut jemand verschwunden: Diesmal sind es zwei kleine Mädchen.

Schnell steckt Arielle wieder mittendrin im Viertel. Das düstere Lebensgefühl und die allgegenwärtige Trostlosigkeit erwischen sie hart. Sie erneuert alte Bekanntschaften, trifft neue Leute, beteiligt sich an der Suche nach den zwei Mädchen und öffnet sich schließlich ihrem größten Schmerz, der sie auf die Suche nach Antworten zu dem Verbleib ihrer Mutter führt.

Das Buch ist großartig. Hin und wieder fand ich Wortwahl und diverse Beschreibungen zunächst etwas drastisch. Aber diese Sprache macht das Ganze dann auch authentisch. Die Leute sprechen nun einmal so, insofern passt das schon. Wie Arielles beschädigte Seele langsam immer deutlicher zum Vorschein kommt, wie psychologisch fundiert die Autorin diese Beschädigungen und ihre Entwicklung darstellt, auf was für einem Niveau hier reflektiert wird und wie hier gesellschaftliche Missstände aufgezeigt werden, wie sehr man mitleidet und die fehlende Liebe und die krasse Einsamkeit nachempfinden kann – das alles ist ganz schön bewegend. Bei aller Traurigkeit ist das Buch aber auch erfrischend witzig und schräg. Beim Lesen wird man immer wieder gefordert, Leerstellen im Erzählten selbst zu füllen. Dadurch packt einen das Buch, und man taucht tief ein in die starke Story. Ein Krimi ist es nicht, aber fast so spannend. Vor allem der Schluss hat es in sich, und weil ich ihn ungewollt (und unverzeihlich) schon bei meiner Kollegin gespoilert habe, werde ich dazu keine weitere Silbe verlieren. Dieses Buch hat alles, was man braucht und ich wünsche ihm viele Leser*innen.

(Birgit Lingmann)


Lisa Roy: Keine gute Geschichte. Rowohlt 2023, € 22,00.

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