Mit ihrem autobiographischen Roman „Schloss aus Glas“ hatte Walls einen Weltbestseller geschrieben. Ihr aktuelles Buch ist fiktiv, aber auch hier wird eine problematische Familiengeschichte erzählt in Form eines Vater-Tochter-Konflikts, der an einige Fallbeispiele in der Geschichte erinnert.

Wir machen eine Zeitreise ins Virginia Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Protagonistin Sallie Kincaid wird um 1900 herum geboren und ist erst fünf Jahre alt, als ihre Mutter stirbt. Ihr Vater ist ein mächtiger Mann in der Gegend. In England würde man ihn als Landlord bezeichnen, hier in den USA ist er für alle einfach der „Duke“. Als sein Sohn aus der zweiten Ehe einen schweren Unfall erleidet, den Sallie während einer waghalsigen Aktion mitverschuldet hat, schickt er seine Tochter zu einer Tante, damit sich die Gemüter erst mal beruhigen. Sie bleibt dort länger als gedacht und erst nach dem Tod der Stiefmutter darf sie zurückkehren.

Inzwischen ist sie siebzehn Jahre alt und zu einer starken und selbstbewussten Persönlichkeit gereift. Ihr großes Vorbild ist ihr Vater, stark aber gerecht. Als er überraschend stirbt, steht sie wieder vor einem neuen Anfang. Nur sind die Zeiten für Frauen noch schwieriger geworden. Wir schreiben die Zeit der Prohibition. Die Mafia unterwandert die Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür. Lynchjustiz ist keine Seltenheit. Männer haben das Sagen, Frauen sind nur Beiwerk. Aber Sallie kämpft sich mit eisernem Willen durch diese von Männern dominierte Welt. Sie will, koste es was es wolle, das Erbe ihres Vaters antreten und genau so mächtig werden wie er. Wird sie es schaffen, sich gegen eine reine Männerwelt zu behaupten?

Mit Sallie Kincaid hat die Autorin eine unvergessliche Figur geschaffen. Spannend und einfühlsam erzählt sie die Geschichte einer mutigen Frau, die immer wieder Hindernisse aus dem Weg räumt und sich wie eine „Stehauffrau“ ständig neu erfinden muss. Ein großer Roman, der sich hinter ihrem umjubelten Erstling nicht verstecken muss, packend geschrieben und bis in die Nebenfiguren fein gezeichnet. Gekonnt fängt die Autorin nicht nur die aufgeladene Atmosphäre der damaligen Zeit ein sondern zeichnet ein Frauenporträt, das bewegt und irgendwie zeitlos ist. Ein Buch, das lange nachhallt und für mich das Highlight in diesem Herbst ist.

(Sylvia Jongebloed)


Jeannette Walls: Vom Himmel die Sterne. Hoffmann und Campe 2023, € 25,00.

Übersetzt von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann

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