Bei dieser Autorin denkt man zunächst an ihre einzigartigen historischen Romane. Doch auch ihr restliches Werk ist eine echte literarische Offenbarung. Vor einem Jahr ist die Autorin leider verstorben. Nun ist auf Deutsch erstmals der Kurzgeschichtenband „Sprechen lernen“ erschienen.

Mögen Sie Kurzgeschichten? Ich lese sie sehr gern, weil ich oft das Gefühl habe, dass in diesen Geschichten so viel mehr steckt, als der erste Eindruck ahnen lässt, dass sich hier so viel mehr Rätsel entschlüsseln lassen, als die wenigen Seiten vermuten lassen. Dabei hat jed*e Autor*in einen ganz eigenen Stil. Mantels Kurzgeschichten sind besonders außergewöhnlich und erwischen ihre Leser*innen genauso unvermittelt wie ihre berühmte Trilogie über Thomas Cromwell und Heinrich VIII, für die sie zweimal den Booker Prize erhielt.

„Sprechen lernen“ versammelt sieben düstere Geschichten, wobei die letzte offenbar ein Ausschnitt aus Mantels Autobiographie „Von Geist und Geistern“ ist. Alle Geschichten sind gerahmt von ähnlichen Settings und Themen. In Retrospektiven erzählen verschiedene Personen von ihren Erlebnissen als zumeist achtjähriges Kind Anfang der 1960er Jahre. Die Geschichten haben viele Gemeinsamkeiten: Der Vater ist abwesend, Stiefväter sind anwesend und bleiben dennoch fremd. Die Wohnsituation ist aufgrund des Liebeslebens der Mutter oft skandalös und das Gerede in der jeweiligen dörflichen Kulisse im Nordwesten Englands bestimmt das Leben der Familie. Die Auseinandersetzung mit der katholischen Prägung ist ein wiederkehrendes Thema, ebenso die soziale Stellung der Familie. Die düstere Grundstimmung kanalisiert sich in konkrete Ängste, in bedrohliche Situationen, in Umbrüche und Zäsuren in der Kindheit, in der Sorge vor Verlusten, vor einem Verirren oder Verunglücken und sonstigem Unheil.

Die Geschichten weisen Ähnlichkeiten mit Mantels eigener Biographie auf. „Ich möchte diese Geschichten nicht autobiografisch, sondern autoskopisch nennen“, schreibt sie in ihrem Vorwort. „Aus einer entfernten, erhöhten Perspektive blickt mein schreibendes Ich auf einen auf seine bloße Hülle reduzierten Körper, der darauf wartet, mit Sätzen gefüllt zu werden.“ Das ist wohl das, was den unheimlichen Zauber dieser Geschichten ausmacht. Von der zunächst distanzierten, leicht schockierten Beobachterposition wechseln die Leser*innen gemeinsam mit der Autorin in die Sezierung der versteckten Innenschichten. Immer wieder findet sich bei genauerem Hinsehen ein neues Element, das wie ein Puzzlestückchen einen weiteren möglichen Sinn erschließt. Ganz toll!

(Birgit Lingmann)


Hilary Mantel: Sprechen lernen. DuMont Buchverlag 2023, € 22,00.
Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence

Teilen Sie diesen Beitrag - Wählen Sie die Plattform