In seinem neuen Erzählband ist Bernhard Schlink seinen großen Lebensthemen treu geblieben, nämlich der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Virtuos spielt er auf der Klaviatur der menschlichen Psyche und trifft mit seinen Geschichten mitten in die Abgründe der Seele.

Es geht um Abschiede jeglicher Art, nicht nur um den Verlust eines geliebten Menschen, sondern auch um Einsichten, die dazu führen, dass man sich von einem eingeschlagenen Weg oder einer Illusion verabschiedet. Ebenso spielt die Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit und die Erkenntnis um gemachte Fehler eine große Rolle. Das Thema Schuld wird dabei immer wieder thematisiert, und zwar Schuld, die man sowohl bewusst als auch unbewusst auf sich geladen hat.

Jede dieser neun Erzählungen ist ein kleines Meisterwerk für sich. Herausragend die Erzählung „Daniel, my Brother“, der Titel ist in Anlehnung einen Song von Elton John gewählt. Hier ringt der Ich-Erzähler mit dem Schmerz um den Tod des älteren Bruders. Dieser ist durch gemeinsamen Suizid mit seiner todkranken Frau aus dem Leben geschieden. Die große Frage warum und warum jetzt treibt ihn um. Verlorene Gemeinsamkeiten, verpasste Chancen, alles was man zusammen hätte machen können, warum die ursprünglich enge Beziehung scheinbar immer unterkühlter wurde, all diese Gedanken lassen ihn fast verzweifeln. So rollt er vor seinem inneren Auge die gemeinsame Kindheit und sein Erwachsenenleben mit dem Bruder auf. Das macht ihn letztendlich nicht nur traurig, sondern auch wütend. Er, der lebenslang um die Zuneigung des Bruders gebuhlt hat, der scheinbar oft zurückgewiesene, geht jetzt hart mit ihm ins Gericht. In der nächsten Phase übt er mehr Selbstkritik und versucht den Bruder besser zu verstehen, bis er ihn schließlich in einem ganzen anderen Licht sieht und versöhnt von ihm Abschied nehmen kann.

Ohne Pathos und ohne Kitsch kommen diese Geschichten daher, vielmehr in einer schnörkellosen, knappen Sprache, immer auf den Punkt kommend und oft genau den wunden Punkt treffend. So spiegeln sie das Leben wider und in einigen wird sich der Leser wiederfinden, so oder so ähnlich.

Man kann die Geschichten mehrmals lesen und entdeckt immer wieder ein entgangenes Detail.

Schlink ist mal wieder ein sehr lebenskluges Buch gelungen. Auf die Frage eines Journalisten, ob dies sein Alterswerk sei, soll er geantwortet haben: Wieso Alterswerk, ich schreibe schon an meinem nächsten Roman. Darauf freuen wir uns schon jetzt. Was wäre die deutsche Literaturlandschaft ohne ihn!

Bernhard Schlink: Abschiedsfarben. Diogenes 2020, € 24,00.

Hier finden Sie das Buch in unserem Onlineshop.

Teilen Sie diesen Beitrag - Wählen Sie die Plattform