Um es direkt zu sagen: Daniel Kehlmann hat sich mit diesem historischen Roman selbst übertroffen. Die Geschichte spielt im 17. Jahrhundert – in einer Zeit, die unfassbar stark geprägt war vom Dreißigjährigen Krieg. Wie „Die Vermessung der Welt“ mischt auch „Tyll“ reale Geschichte und Fiktion munter durcheinander. Zahlreiche Daten und Ereignisse aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die hier beschrieben werden, decken sich mit der Geschichtsschreibung. Ganz offensichtlich literarisch verfremdet hingegen ist das Leben der titelgebenden Hauptperson. Till Eulenspiegel soll im 14. Jahrhundert gelebt haben, also ein paar hundert Jahre vor der erzählten Handlung. Aber die fehlende historische Authentizität ist nicht schlimm, finde ich. Denn jemand, der nichts und niemand respektiert und vieles mit seinen feinsinnigen Schalk durcheinanderwirbelt, tut diesem brutalen Zeitalter ganz gut. Ein Jahrhundert, in dem dumme Könige Dummes tun, in dem scheinheilige Kirchenfürsten foltern; ein Jahrhundert, in dem Kriege entfacht werden, in dem ganze Landstriche verwüstet und entvölkert werden – warum soll man darüber nicht lachen?

„Der Krieg dauert schon so lange, dass die meisten, die heute leben, keinen Frieden gesehen haben.“

Der Krieg und seine Auswirkungen, die Schlachten, das Elend, der Tod: harte Kost. Es war ein allumfassender Krieg, der jeden traf, denn die Bevölkerung war Plünderungen und Morden vorbeiziehender Soldaten hilflos ausgeliefert. Das ist alles grausam und düster. Auch wenn Tyll, der respektlose, berühmt-berüchtigte Gaukler, alles leichter erträglich macht: Nachhaltig im Bewusstsein blieb mir eine Schlachtszene, deren Schrecken nicht zu beschreiben sei, heißt es im Roman. Denn der berichtende Chronist sieht sich „nicht imstande, es in Sätze zu fassen, die wirklich etwas bedeuteten.“ Daniel Kehlmann gelingt es jedoch sehr gut, dieses unbeschreibbare Massaker zu beschreiben. Dabei verzichtet er zum Glück auf blutige Einzelheiten. Der Roman ist an keiner Stelle voyeuristisch, weil es nicht zum moralischen und ästhetischen Schreibkonzept des Autors passt, wie er in Interviews sagt.

Schön und gut, denken Sie jetzt vielleicht. Und was ist nun so besonders an dem Buch? Ich finde die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges sehr wichtig: Eine fragile politische Ordnung, eitle und ungeschickte Herrscher, brutale Schlachten um Glaubensfragen, unfassbare Gewalt, die nur unter größten Anstrengungen zu stoppen ist: Ist das nicht dramatisch aktuell? Neben diesem inhaltlichen Aspekt gefallen mir der feine Humor und der meisterliche Sprachwitz ausgesprochen gut. Er ist ein bisschen dosierter und etwas leiser als bei „Die Vermessung der Welt“. Herrlich, wie Elisabeth Stuart die Dinge betrachtet. Oder wie ihr glückloser Gatte, der Winterkönig, Menschen und Situationen vollkommen hilflos missdeutet. Oder wie Tyll der Welt den Spiegel vorhält. Oder wenn die Gelehrten sich an Logik versuchen.

„Nicht die Augen schließen“, sagte der Narr. „Mach ich nicht“, sagte der König. „Sei still“, sagte der Narr, und der König fragte sich, ob er es durchgehen lassen durfte, Narrenfreiheit hin oder her, das ging zu weit.“

Ein fabelhafter Schmöker. Witzig und doch erschreckend finster. Dieses Buch zeigt, wie unmenschlich es sein kann, Mensch zu sein.

Daniel Kehlmann: Tyll. Rowohlt 2017, € 22,95.

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