Das Bücherjahr 2021 startet mit vielen spannenden Neuerscheinungen, unter anderem mit einer aufregenden literarischen (Wieder-)Entdeckung: 1967 ist dieser schmale, wortgewaltige Roman bereits in Dänemark erschienen. Hierzulande blieb er nahezu unbekannt.

„Der Kindheit kann man nicht entkommen, sie hängt an einem wie ein Geruch.“

Das Buch erzählt vom Kopenhagener Arbeitermilieu in den 1920er Jahren, vollkommen ohne eine nostalgische Verklärung der Vergangenheit. Nüchtern werden hier die realen Lebensbedingungen eines Mädchens beschrieben, das aus armen Verhältnissen stammt, und das nie so richtig ankommt in seinem Leben. Die Mutter ist eine negative Figur, die zwischen selbstbewussten Ambitionen, Unzufriedenheit und Ablehnung der Tochter schwankt. Das Verhältnis  des Mädchens zu ihr ist ambivalent, gleichermaßen von Zorn und Bewunderung geprägt. Der Vater ist arbeitsloser Sozialdemokrat und ohne Hoffnung auf eine neue Stelle. Er versinkt in Büchern und politischen Theorien und nimmt ansonsten kaum am Leben der Familie teil. Der Bruder ist das wichtigere und von der Mutter geliebtere Kind, und so läuft die Ich-Erzählerin, die offenbar viele Züge der Autorin trägt, immer nur nebenbei mit und wächst auf in einer rauen Welt. Ihre Rettung findet sie in Büchern, zu denen sie als Mädchen nur erschwerten Zugang hat. Im Zeitraffer beschreibt der Roman Szenen der Kindheit, die sich zunehmend auf der Straße abspielt. Dort trifft sie auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Menschen, deren Schicksale das Geschehen zu einem historisch präzisen Gesellschaftsportrait abrunden.

Ein dicht und präzise erzähltes Erinnerungswerk, das auf klare Sprache und knackige literarische Stilmittel setzt. Schnell entwickelt es einen düsteren Sog, der seine Leser*innen schnell gefangen nimmt. In ihrem Heimatland Dänemark wird Ditlevsen verehrt wie kaum eine andere Autorin. In der internationalen Literaturszene vergleicht man sie mit Annie Ernaux, Lucia Berlin und Rachel Cusk. Umso erstaunlicher, dass man sie bei uns kaum kennt und umso schöner, dass ihre autobiografische Trilogie mit „Kindheit“ als erstem Teil nun endlich bei uns einen fröhlichen Hype erfährt. Die erste Auflage war nur wenige Tage nach Erscheinen bereits vergriffen, und das will was heißen. Teil 2 und 3 erscheinen Mitte Februar. Die neue Übersetzung macht viel Lust auf diese Trilogie. Danke, Aufbau Verlag!

(Birgit Lingmann)

Tove Ditlevsen: Kindheit. Aufbau Verlag 2021, € 18,00.

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