Marco Balzano ist Lehrer für Literatur an einem Mailänder Gymnasium und gehört zu den erfolgreichsten italienischen Autoren. Außer Gedichten, Essays und Erzählungen schreibt er auch Romane. Den neuesten stellen wir Ihnen hier vor.

Graun ist ein kleines Dorf in Südtirol. Hier lebt die junge Lehrerin und Ich-Erzählerin Trina. Sie schreibt in einer Art Tagebuch für ihre Tochter über prägende Jahre ihres Lebens. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen auf einem Bauernhof, wird sie 1923 nach der Reifeprüfung wie ihre beiden Freundinnen Lehrerin. Sie heiratet den Bauern Erich und bekommt eine Tochter, später noch einen Sohn. Das Leben ist voller Entbehrungen in Südtirol, das in den 1920er und 1930er Jahren sehr unter dem Machtstreben des Dritten Reichs und Mussolinis Italien leidet. Doch dann kommen die Kriegsjahre und es wird noch viel schlimmer. Vor die Wahl gestellt, nach Deutschland auszuwandern oder zu bleiben und als Menschen zweiter Klasse zu gelten, wählen Trina und Erich ihre Heimat und damit nimmt das Schicksal seinen Lauf.

Das Unterrichten wird immer schwieriger und muss heimlich in Verstecken geschehen. Als viele Dörfler aus Angst vor den Soldaten in die Berge fliehen, schließen sie sich an. Sie leben dort unter unvorstellbaren Entbehrungen, leiden unter Hunger und Kälte und entkommen nur knapp der Hinrichtung. Als der Krieg endlich zu Ende ist, schöpfen sie wieder Hoffnung und wollen ihr altes Leben neu aufnehmen. Doch das Schicksal hat noch mehr mit ihnen vor.

Der Gedanke, in dieser Gegend Südtirols einen Stausee zu bauen, kam das erste Mal Anfang des 20. Jahrhunderts auf, dann nahmen ihn die Deutschen kurz wieder auf. In den Nachkriegsjahren sind es schließlich die Italiener, die zur Realisierung des Projektes schreiten. Dörfer wie Graun werden geflutet, Häuser werden zwangsgeräumt, die Bevölkerung wird in Notunterkünften untergebracht. Das Land und persönlicher Besitz bis auf ein Minimum weg, kaum Entschädigung. Die Menschen entwurzelt und traumatisiert.

Von diesen historischen Fakten erzählt Balzano anhand einer fiktiven Familiengeschichte in einer klaren Sprache sehr einfühlsam und eindringlich. Man fragt sich, wie viel muss und kann ein Mensch erleiden. Der Leser ist in dieser Geschichte nicht nur ein Gast, der zuschaut, sondern er erlebt und fühlt das Geschehene mit. Dennoch ist es ein versöhnliches Buch und es beschreibt, wie Menschen in Extremsituationen über sich selbst hinauswachsen und sich nicht unterkriegen lassen. Am Ende des Buches ruft sich die Protagonistin Worte ihrer Mutter in Erinnerung: Vorwärts gehen, die einzige Richtung die erlaubt ist, sonst hätte Gott uns die Augen seitlich gemacht. Dem ist nur noch hinzuzufügen, dieses Buch wird sie verfolgen, aber sie würden es bereuen, es nicht gelesen zu haben, denn sie werden jetzt vieles aus einem anderen Blickwinkel sehen. Ein Buch, auf das man nicht verzichten sollte, ein ganz großer Wurf!

Marco Balzano: Ich bleibe hier. Diogenes 2020, € 22,00.

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