Literaturkreis: Welches Buch sollen wir lesen?

Viele Monate haben unsere Veranstaltungen pausiert. Keine Lesungen, kein Literaturkreis, und das alles wegen Corona! So wie es aussieht, werden wir auch noch weiterhin einige Zeit pausieren, weil wir in unserem Raum kein Veranstaltungskonzept unter COVID19-Bedingungen umsetzen können. Außerdem erfordern Veranstaltungen einen zeitlichen Vorlauf und Planungssicherheit, und die haben wir derzeit nicht.

Um also einerseits niemanden leichtsinnig zu gefährden und andererseits nicht auf Literatur-Events und Gespräche mit Ihnen verzichten zu müssen, starten wir mit unserem Literaturkreis in ein neues Format:

Wir lesen: online!

Jetzt fehlt nur noch das Buch, über das wir bei unserem ersten funky Online-Lesekreis mit Ihnen sprechen möchten. Traditionell entscheiden nicht wir, welches Buch das ist, sondern Sie. Dies sind unsere Vorschläge:

Benjamin Myers, ein preisgekrönter britischer Autor, hat Sachbücher, Lyrik und Romane veröffentlicht. Offene See erinnert streckenweise sehr an „Ein Monat auf dem Land“ von J.L. Carr, das viele von Ihnen (und wir auch) sehr mochten.

Der alte Robert blickt auf sein Leben zurück und wird in der Erinnerung wieder zu seinem jungen Alter Ego. Rückblende: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nimmt er sich eine Auszeit, bevor er gemäß der Familientradition in den Bergbau geht. Es zieht ihn, der weite unberührte Landschaften liebt, hinaus in die Einsamkeit und letztendlich zum Ziel seiner Sehnsucht, dem Meer.

Kurz vor Erreichen der Küste entdeckt er ein altes verfallenes Cottage, in dem eine ältere Frau wohnt. Die unkonventionelle Dulcie lädt ihn zu einem Tee ein und aus einem Nachmittag werden Tage und Wochen. Sie führen lange intensive Gespräche und langsam ändert sich seine Weltsicht, die er von seinem eher kleingeistigen Elternhaus übernommen hat. Irgendwann merkt er, dass Dulcie ein Geheimnis umgibt, das es zu ergründen gilt und er setzt viel daran, es heraus zu finden.

Hauptdarsteller in diesem Roman ist immer wieder das Meer. Grandiose Beschreibungen runden das Bild buchstäblich ab und geben dem Roman die letzte Würze. Die Phantasie des Autors kennt hier keine Grenzen. Auch die Landschaftsbeschreibungen sind üppig und fast fotografisch.

Eine kunstvoll erzählte Geschichte, sehr prall und bunt daherkommend, aber auch very British. Letztendlich ein sehr sympathisches Buch, in das man gerne eintaucht und in andere Welten reist.

Benjamin Myers: Offene See. Dumont 2020, € 20,00.

Hier finden Sie das Buch in unserem Onlineshop.

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise von Jean-Paul Dubois ist in Frankreich mit dem Prix Goncourt 2019 ausgezeichnet worden. Und darum geht’s:

Paul Hansen sitzt in einem kalten, baufälligen, bedrohlichen Gefängnis in Montreal. Sein trister Alltag wird aufgelockert von schrägen Lebensweisheiten seines Zellenmitbewohners Patrick, ein etwas neurotischer Hells Angel.

Parallel zum Gefängnis wird Pauls Geschichte erzählt. Er erinnert sich an seine Eltern, seine Kindheit, an Verlust und Schmerz, und an sein Dasein als Hausmeister in einer Wohnanlage. Er hatte es nicht leicht und musste schon einiges erdulden. Sein Leben wird bevölkert von unvollkommenen Menschen, deren Handlungen Pauls Welt hin und wieder ganz schön aus den Angeln hebt. Er selbst ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Er hadert nicht mit seinem Schicksal, er nimmt es an und hält es aus. Er hat tiefes Verständnis für menschliche Schwächen. Man fühlt sich ihm sehr schnell sehr nah.

Spannend ist dieses Buch, weil es den Leser in einem ganz wesentlichen Punkt im Unklaren lässt: Warum ist Paul eigentlich im Gefängnis? Ihm ist offenbar die Sicherung durchgebrannt, aber warum? Geschrieben ist der Roman bei aller Melancholie und Tragikomik in einem sachlichen und zurückhaltenden Ton – was einige Szenen umso intensiver und ergreifender macht. Ein warmes Buch über Toleranz und menschliches Scheitern.

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise. dtv 2020, € 22,00.

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Jhumpa Lahiri ist Anglo-Amerikanerin mit indischen Wurzeln und mehrfach preisgekrönt (u.a. im Jahr 2000 mit dem Pulitzer-Preis). Ihr neuer Roman Wo ich mich finde erinnert oft an den Stil von Elizabeth Strout.

Kaleidoskopartig entfächert sich das Leben der namenlosen Protagonistin. Wir begleiten sie durch eine Universitätsstadt in Italien, in der sie lebt und an deren Uni sie arbeitet. Die Mittvierzigerin, alleinstehend, gebildet und vielseitig interessiert, lässt uns ausschnittsweise an ihrem Leben teilhaben. So lernen wir die ihr vertrauten Orte kennen, die sie immer wieder aufsucht, Museen, Bars, Theater, ihre Lieblingsbuchhandlung, den Zeitschriftenladen, den Supermarkt, den Park, banale Orte. Sie beobachtet sehr feinsinnig ihre Umgebung und die darin lebenden Menschen. Manches wird seziert, ihr eigenes Inneres nicht ausgenommen. Sie reflektiert sich selbst – nicht nur die anderen. So reiht sich kapitelweise Puzzlestein an Puzzlestein und ihr Charakter und ihr ganzes Leben erscheint immer klarer. Dabei lernen wir eine Getriebene auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz im Leben kennen. Es geht um Entwurzelung und Fremdsein.

Die Geschichte umweht eine leichte Melancholie, die aber angenehm ist und nie runterzieht. Die Sprache ist so knapp wie die Kapitel kurz sind. Eine Erzählung über einen interessanten Selbstfindungsprozess, die den Leser von Anfang an gefangen nimmt und nicht loslässt. Spannend, sensibel und sehr gutgeschrieben.

Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde. Rowohlt 2020, € 20,00.

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So, und nun haben Sie die Qual der Wahl! Welches Buch soll es sein?

Sie entscheiden, was wir lesen und über welches Buch wir sprechen bei unserem virtuellen Treffen Ende Oktober. Sie müssen sich natürlich nicht anmelden, um am Voting teilzunehmen. Ihre Stimme können Sie abgeben per Mail, indem Sie uns eine Nachricht auf Facebook, Instagram oder WhatsApp schreiben, per Telefon oder per Zuruf in unserem Geschäft.

In der nächsten Woche berichten wir Ihnen dann, welches Buch gewonnen hat.