Die in Moskau geborene deutsche Autorin blickt mit ihrem zwei Tage vor dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine erschienenen Roman tief in die russische Seele. Die Hoffnungen eines ganzen Volkes auf bessere Zeiten atmen durch jede Seite. Doch die Realität hat sie inzwischen eingeholt.

11. März 1985 irgendwo in Sibirien in der untergehenden Sowjetunion: In einer Kommunalka (Gemeinschaftswohnung mit mehreren Parteien) leben in einem Zimmer vier Frauen verschiedener Generationen auf engsten Raum zusammen. Die lebenslustige Großmutter Warwara arbeitet noch, ist sehr aktiv und hat eine unbemerkte Affäre mit einem Zugschaffner. Ihre Tochter Maria ist Museumswärterin und heimlich in einen Mitbewohner der Kommunalka verliebt. Die Enkelin Janka, Anfang 20, arbeitet in einer Glühbirnenfirma und ist mit Leib und Seele Musikerin. Heute will sie in der Gemeinschaftsküche ein Konzert geben. Ihre Tochter ist im Kindergartenalter und der Schrecken der Gemeinschaft. Zitat: Sie plärrt den ganzen Tag.

Wir erleben 24 Stunden im Leben dieser skurillen Schar an diesem schicksalhaften Tag. Wie immer, wenn ein hoher Staatsmann gestorben ist, ertönt im Radio Chopins Trauermarsch in Dauerschleife. Keiner weiß, dass es das Ende einer Ära ist und mit dem Nachfolger, Gorbatschow, eine neue Zeit eingeläutet werden soll. Doch unterschwellig ist jedem bewusst, dass die Zeit reif für Veränderung ist. Alles scheint irgendwie zu zerfallen. Der Zerfall zeigt sich an Arbeitsplätzen, unzumutbaren Wohnsituationen, langen Schlangen vor Lebensmittelläden und vielem mehr. Die Menschen bauen sich kleine Nischen, in denen das Leben noch lebenswert ist und hoffen weiter auf bessere Zeiten. So bekommt Jankas Küchenkonzert einen besonderen Symbolwert. Es wird zur Zukunftsmusik eingeläutet.

Der Autorin ist ein wunderbar komplexer Roman gelungen mit liebevoll skizzierten Charakteren und viel Situationskomik. Eine leichte Melancholie umweht die Seiten, zieht aber nie runter, denn da ist immer noch die Hoffnung. Ein Buch, das erst ganz leise daher kommt, uns dann aber mit voller Wucht packt und nicht mehr loslässt. Poladjan schreibt literarisch auf hohem Niveau, sehr sensibel und unterhaltsam aber auch tiefgründig. Sie hat einen kleinen Mikrokosmos erschaffen, der einfach mitreißt und lange in Erinnerung bleibt. Das absolute Buchhighlight in diesem Frühjahr!

(Sylvia Jongebloed)


Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. S. Fischer Verlag 2022, € 22,00.

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