Die Autorin blättert in ihrem zum Teil auf Fakten basierenden Roman die Geschichte einer außergewöhnlichen Familie auf und erzählt zugleich 200 Jahre italienischer Zeitgeschichte. Wir begleiten die Familie Casadio über sieben Generationen durch Höhen und Tiefen.

In Stellata, einem kleinen Dorf in der Po-Ebene, lebt die Bevölkerung von dem, was der Fluss ihnen bietet, von guten oder schlechten Ernten, mit Dürre oder Hochwasser. Hier lebt Giacomo Casadio Anfang des 19. Jahrhunderts. Er ist von Natur aus schwermütig, verträumt und ein Einzelgänger. Als in dem verheerenden Winter des Jahres 1800 ein fahrendes Volk in das Dorf kommt, muss es dort länger als üblich verweilen. Dadurch lernt er auf dem alljährlichen Dorffest die schöne Zingara (Roma) Viollca kennen und lieben. Gegen den Willen ihrer Familie heiraten sie und bald darauf kommt der gemeinsame Sohn Dollaro zur Welt. Dies ist der Beginn einer Dynastie.

Viollca verfügt über eine besondere Gabe, sie kann Tarotkarten lesen und in die Zukunft sehen. Dieses hellseherische Talent vererbt sie an einige ihrer Nachkommen, die merkwürdigerweise wie sie schwarze Haare und dunkle Augen haben. Ihr Sohn Dollaro wiederum hat die magische Fähigkeit, mit den Toten sprechen zu können. So findet sich in jeder Generation der eine oder andere Nachfahre mit sehr speziellen Fähigkeiten. Aber auch die schwermütige und pragmatische Veranlagung taucht in einigen meist blonden und blauäugigen Nachkommen wieder auf. Alle eint die harte Realität des Alltags. Bittere Armut und Überlebenskämpfe, Kriege und Aufstände, Naturkatastrophen aber auch gute Jahre, Liebe und Glück gehören zu ihrem Leben.

Wunderbar sensibel geht die Autorin mit ihren Figuren um, mit ihren Gefühlen, Gedanken und Träumen. Dabei ist ihr das Kunststück gelungen, sehr viele Charaktere in ihrer Einzigartigkeit darzustellen. Jedes Kapitel ist einer anderen Generation gewidmet. Zum besseren Verständnis ist am Ende des Buches ein Stammbaum angehängt. Die mystische Ader der Familie wird zwar thematisiert, entscheidend sind aber die historischen Eckpfeiler, die das Leben der einzelnen Personen beeinflussen und letztendlich zu einem Spiegelbild der Gesellschaft werden. Ein epochales Familienepos, farbenprächtig und bunt wie der Einband des Buches, spannend und mitreißend erzählt sowie literarisch auf hohem Niveau. Ein großes Lesevergnügen für lange Winterabende und ein besonderes Highlight in diesem Jahr!

(Sylvia Jongebloed)


Daniela Raimondi: An den Ufern von Stellata, Ullstein 2022, € 23,99.

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