Die Geschichte zweier Freundinnen, die in Russland während der 70er und 80er Jahre aufwachsen, nimmt uns mit in eine fremde Welt. Bildgewaltig erzählt von einer Autorin, die hier ihre eigenen Erlebnisse verarbeitet hat. 

In einem Vorort von Moskau wachsen Anja, die Ich-Erzählerin, und Milka auf. Seit der ersten Klasse sind sie unzertrennlich und könnten doch nicht unterschiedlicher sein. Die kleine und zerbrechlich wirkende Milka kommt aus schwierigen Familienverhältnissen. Sie scheint ein Geheimnis zu umgeben. Die wohlbehütete Anja, schon von Statur robuster, hat durch ihre Akademiker-Eltern ein stabileres Rüstzeug fürs Leben mitbekommen. Furchtlos und aufmüpfig, saugen sie und ihre Freunde die westliche Popkultur auf. „We are the Champions“ wird zu ihrem Lebensmotto. Sie tragen Jeans und die Metropolen Rom und Paris werden ihre ernannten Sehnsuchtsorte. Die Hoffnung auf eine Zukunft in Freiheit und Wohlstand bestimmt ihr Leben. 

Doch die ständigen politischen Umbrüche ersticken jede Art von Hoffnung und Rebellion im Keim. Eine Art von Traurigkeit hängt über dem Land. Nur im Sommer kommt ein Hauch von Lebensfreude auf, wenn sie sich mit ihren Familien auf ihren Datschas erholen, Kraft tanken und mit Nachbarn und Freunden feiern. Doch unaufhaltsam bricht ihre Welt immer weiter auseinander. Wie wird ihr Erwachsenenleben aussehen? Werden sie sich von ihren Zwängen befreien können?

Mitreißend beschreibt die Autorin die Coming-of-Age-Geschichte zweier Mädchen in der zerfallenden Sowjetunion. Anders als bei etwa Elena Ferrante spielt in diesem Roman das politische Umfeld eine große Rolle. Wir blicken auf eine Gesellschaft im permanenten Ausnahmezustand, die sich in einer stetigen Abwärtsspirale befindet. Wohin das geführt hat, sehen wir an der aktuellen Lage in Europa. Das ist einer der vielen interessanten Aspekte dieses Romans. Ein anderer ist, dass wir es hier mit einem wichtigen Debütroman und einer echten literarischen Entdeckung zu tun haben. Voller Poesie und Dramatik, sachlich nüchtern und schonungslos brutal, aber auch sehr sensibel erzählt die Autorin von einer versunkenen Welt, deren Tentakel bis in die Gegenwart greifen. Ein wichtiges Zeitzeugnis sowie ein großer Roman ganz in der Tradition der russischen Klassiker. Sehr empfehlenswert!

(Sylvia Jongebloed)


Kristina Gorcheva-Newberry: Das Leben vor uns. C.H. Beck 2022, € 25,00.

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