Die unvergleichliche Jane Gardam hat schon mit ihrem Debüt ein kleines Meisterwerk geschaffen. Endlich liegt es auch in der deutschen Übersetzung vor. Obwohl schon 1978 erschienen, ist es zeitlos und thematisch nach wie vor hochaktuell.

England 1930er Jahre: Die achtjährige Margret macht gerade schwere Zeiten durch. Nach der Geburt ihres kleinen Bruders dreht sich alles um ihn. Ihre Mutter hat deshalb ein schlechtes Gewissen und erlaubt ihr, einmal in der Woche mit dem neuen Hausmädchen Lydia einen Ausflug zu machen. An diesem Mittwoch, es ist ein heißer Sommertag, fahren sie mit dem Zug Richtung Küste. Während eines Spazierganges entdecken sie mitten in einem Park ein riesiges altes Landhaus mit merkwürdigen Bewohnern. Es ist nicht nur ein Altersheim für alte Künstler, sondern beherbergt auch eine psychiatrische Station. Hier kreuzen sich nun Gegenwart und Vergangenheit, viele Konflikte haben hier ihren Ursprung, brechen erneut auf und werden in Rückblenden erzählt.

Margret, die Hauptperson dieses Romans, wächst in einer sehr religiösen Mittelschichtfamilie auf. Dem strenggläubigen Vater kann durchaus Sektierertum unterstellt werden. Er führt ein eisernes Regime, in dem Bigotterie und Heuchelei an der Tagesordnung sind. Am Ende der Geschichte wird er selbst zum Opfer seiner eigenen Ansprüche, was nicht einer gewissen Ironie und Tragik entbehrt. Der Mutter, die ursprünglich eine andere Lebensplanung hatte, bietet sich die Möglichkeit, ihr bisheriges Leben noch einmal kritisch zu überdenken. Lydia, das äußerst lebensfrohe Hausmädchen, steht im totalen Gegensatz zum übrigen Haushalt und tut das ihrige dazu, das Leben der Familie gehörig auf den Kopf bzw. infrage zu stellen. Margret erwächst aus diesem Sommer gestärkt und selbstbewusst, aber auch mit Blessuren und tragischen Erfahrungen.

Ein Roman, der in einem ruhigen Fahrwasser beginnt, dann aber deutlich an Fahrt aufnimmt und geschickt an der Spannungsschraube dreht bis zum dramatischen Ende. Die feine Figurenzeichnung gepaart mit stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen sind ein Lesegenuss und meisterlich umgesetzt. Vordergründig ein Gesellschaftsroman, der in einer Zeit des Umbruchs zwischen zwei Weltkriegen spielt, werden sowohl mit feiner Ironie als auch tiefgründig zeitlose und existentielle Fragen des menschlichen Lebens behandelt. Very british, very well-made, ganz große Erzählkunst!

(Sylvia Jongebloed)


Jane Gardam: Mädchen auf den Felsen. Hanser 2022, € 22,00.

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