„Ganz gewiss möchte ich nicht um Gnade bitten.“

„Unorthodox“ und „Überbitten“, beides autobiographische Erzählungen von Deborah Feldman, waren schon einige Male über unsere Kassentheke gewandert, bis ich darauf aufmerksam wurde. Viele begeisterte Leserinnen und Leser ihrer Bücher können nicht irren, dachte ich, also griff ich eines Tages endlich zu und konnte „Unorthodox“ nicht mehr aus der Hand legen.

Die Satmarer Chassidim sind eine ultraorthodoxe jüdische Gemeinschaft in Williamsburg (Brooklyn). Ihr Name stammt von der rumänischen Stadt Satu Mare. Im Holocaust war die jüdische Bevölkerung dieser Stadt fast vollständig vernichtet worden. Die Sekte wurde in New York durch ihren überlebenden Rabbiner neu gegründet. Ihre Mitglieder sind der Meinung, dass der Holocaust diejenigen getötet hatte, die assimiliert waren und nicht fromm genug gelebt hatten. Diesem Schicksal wollen sie nun mit extrem religiöser Lebensweise entgehen. Für jede Kleinigkeit im Alltag scheint es eine Regel oder ein Verbot zu geben. Von überall droht Sünde und Unreinheit, und die Gemeinschaft wacht mit Argusaugen, dass niemand die umfangreichen Gesetze verletzt. Entrechtet ist jeder Einzelne, aber besonders hart trifft es Kinder und Frauen. Letztere sind von Verboten und strukturellen Schuldzuweisungen extrem betroffen. Vor allem den Älteren unter ihnen ist klar, dass ihre stark reglementierte Lebensweise nicht mehr viel mit dem wesentlich freieren Leben der osteuropäischen Vorfahren zu tun hat. Aber wenn etwa der Rabbi beschließt, dass Frauen nicht nur eine Perücke tragen müssen, sondern sich von einem Tag auf den anderen auch die Haare abrasieren sollen, dann stellt das keiner infrage.

Hier wächst Deborah Feldman auf. Sie kommt mit diesem eingeengten Leben nicht zurecht und verliert schon früh ihren Autoritätsglauben. Von der Wahrheit ferngehalten und ebenso von der Möglichkeit, mit „offenen Augen auf die Welt“ zu blicken, sucht sie bereits als Kind Geborgenheit in Büchern. Das geschieht heimlich und ist nur unter großen Anstrengungen möglich, denn die Bücher, die sie wählt – vor allem die in englischer Sprache – sind ihr verboten.

„Es könnte alles andere in meinem Leben erträglich machen, dürfte ich nur immer Bücher bei mir haben.“

Freier Zugang zu Bildung, die Freiheit, zu entscheiden, wen man heiratet, die Freiheit, selbst zu bestimmen, wie man leben und denken möchte – keine Selbstverständlichkeit. Gerade mal siebzehn Jahre alt, wird Deborah Feldman zwangsverheiratet und erkrankt. Verurteilt zum passiven Erdulden, zur Reduktion auf eine Entrechtete, bekommt sie Panikattacken und entfernt sich innerlich immer mehr von den Satmarer Werten, die in ihr Hunger und Mangel erzeugen. Sie erkennt mehr und mehr, dass ihr Platz nicht in dieser repressiven Gemeinschaft zu finden ist. Es passieren einige schlimme Dinge, die die Unvereinbarkeit von irdischer Gerechtigkeit und chassidischer Gottesfürchtigkeit krass verdeutlichen. Nach außen funktioniert sie und bleibt unauffällig, doch in Wirklichkeit rebelliert sie und bereitet zielstrebig ihren Ausstieg vor.

Geschrieben wie eine Mischung aus Roman und Autobiographie, ist der Tonfall in weiten Strecken nüchtern und sachlich. Er ist hart, wo er Hartes beschreibt, und emotional, wo die Autorin vom Schmerz schreibt, anders zu sein, nicht dazuzugehören, sich einsam, ausgehöhlt und ungeliebt zu fühlen.

Dieses Buch hat mich umgehauen. Ich wusste nichts von dieser chassidischen Welt und hatte keine Ahnung, dass so etwas heutzutage in einer Stadt wie New York existiert. Was Deborah Feldman über das Leben in einer frauenverachtenden, abgeschotteten Gegen-Gesellschaft schreibt, hat mich richtig mitgenommen. Einige Passagen machen mich wütend und traurig. Vor allem aber hat mir dieser Text einen Riesenrespekt eingeflößt vor dieser mutigen, intelligenten, besonderen Frau, die ihren Weg geht, obwohl sich ihr wirklich sämtliche Hindernisse in den Weg stellen, die einem schlecht gelaunten Schicksal (oder Gott?) einfallen können. Deshalb ist das Buch mehr als „nur“ eine Autobiographie. Es ist aufrüttelnd und ermutigend. Es kann ein Leitbild sein.

„Wenn irgendwer jemals versuchen sollte, Dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was Du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch Du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen.“

In der Fortsetzung „Überbitten“ erzählt sie, was ihr nach dem Ausstieg aus der Gemeinschaft der Satmarer widerfuhr. Auch dieses Buch ist absolut empfehlenswert.

Deborah Feldman: Unorthodox. btb Verlag 2017, € 10,00 / Secession Verlag 2016, € 22,00.

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