In England schon 1951 erschienen und ein Klassiker. In Deutschland fast in Vergessenheit geraten, wurde der erste Teil des grandiosen Romanzyklus „Ein Tanz zur Musik der Zeit“ 2015 vom unabhängigen Elfenbein Verlag in einer wunderbaren Übersetzung herausgebracht. Dem Verlag kann man dafür gar nicht genug danken. Nun kommen nach und nach alle Teile des insgesamt zwölfbändigen Zyklus zunächst bei Elfenbein heraus (bisher ist man bei zehn Bänden angelangt), und später dann bei dtv im Taschenbuch-Format (bisher sind es die ersten drei Bände). Endlich. Diese ersten drei Bände habe ich nun gelesen und finde sie sehr vielversprechend. Vor allem, weil sie einerseits absolut zusammengehören und man immer wieder auf dieselben Figuren stößt. Aber auch, weil sie andererseits ganz unterschiedliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens des Ich-Erzählers behandeln und sich der Schwerpunkt von Band zu Band auf andere Themen verlagert, die sich dann jeweils wie ein roter Faden durch die Handlung ziehen. Das macht die Lektüre sehr abwechslungsreich.

Nick Jenkins heißt die Hauptfigur dieses schillernden Gesellschaftspanoramas. Der erste Band „Eine Frage der Erziehung“ beginnt in medias res, nämlich mit einer Assoziationskette, wie sie uns noch öfter in dem Werk begegnen wird. Der Ich-Erzähler beobachtet Straßenarbeiter, die ihn an ein bestimmtes Gemälde erinnern, von dem sich Powell den Titel und Thema für sein Werk geliehen hatte. Munter wird weiter assoziiert: Vom Gemälde, das einen Tanz der Jahreszeiten zeigt, zu den Menschen, die während ihres Lebens dem Zeitlauf ausgeliefert sind, in ihrem Tanz durchs Leben stets nach außen gewandt, mit unsicheren Bewegungen, in einer scheinbar sinnlosen Tanzschrittabfolge – ein erstes Wow bei mir. Ein tolles gedankliches Bild, das ein wichtiges Thema des Romans vorstellt.

Im Verlauf folgen weitere Assoziationen, Gedanken- und Handlungssprünge. Das hat meine Konzentration zunächst ziemlich gefordert. Aber als ich mich darauf eingelassen hatte, kam ich sehr gut mit diesem Buch zurecht. Der Roman besteht im Grunde aus einzelnen, nur grob miteinander verbundenen Episoden, die aber jede für sich ausführlich beschrieben werden und ausreichend Handlung bieten, um mit Hingabe in dieser Welt der 1920er Jahre zu versinken. Ich habe schnell begonnen, diesen ersten Band aus vollem Herzen zu lieben.

Das liegt nicht zuletzt an dem ausführlich beschriebenen Personal. Man sieht diese Leute förmlich vor sich: den sarkastischen Stringham, den netten Farebrother, den promisüchtigen Sillery. Und witzig ist das Buch auch. Urkomisch sind etwa Jimmy Striplings Wutausbrüche, wenn Wörter wie „Krieg“ oder „Schlacht an der Somme“ fallen. Denn sein eigener gesellschaftlicher Beitrag während des Ersten Weltkriegs war von ganz besonderer Art, was ihn nach eigener Auffassung allen Kriegsteilnehmern hoffnungslos unterlegen macht. Herrlich!

Der Zyklus wird oft mit „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verglichen. Das gibt, bei allen Unterschieden im Schreibstil, schon eine Richtung an, was für ein Text zu erwarten ist. Da wäre zum Beispiel die Konzentration auf ein ähnliches Personal, nämlich die gehobenen Gesellschaftsschichten. Und natürlich der Versuch, Erinnerung und Assoziationen literarisch umzusetzen. Powell beschreibt allerdings längst nicht so ausufernd wie Proust, sondern konzentriert und episodenhaft. Er ist im Grundton nicht träumerisch, sondern nüchtern und in der Grundhaltung wohl eher bissig als wehmütig.

Was soll man nach so einem grandiosen Buch lesen? Das wäre das einzige, was ich dem Autor vorwerfen könnte: Dass er den Lesegeschmack für alle folgenden Bücher verdirbt, weil er die Messlatte sehr hoch setzt. Da ist es doch ein Segen, dass noch so viele Fortsetzungen folgen. Danke, Mr. Powell!

Anthony Powell: Eine Frage der Erziehung (Bd. 1 von: Ein Tanz zur Musik der Zeit). dtv (seit 2017) und Elfenbein Verlag (seit 2015). 12 Bände.

Neugierig geworden? Hier können Sie den ersten Band (und natürlich alle folgenden!) bei uns bestellen.

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